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Dynamisch und vernetzt: Wie digital wird der Pflanzenschutz in Zukunft sein?

Autoren: Jens Henningsen, Thomas Jeswein.
Kategorie:
Smart Farming.

Einleitung


In der Welt um uns herum befinden sich viele »Systeme«. Manche der technischen und auf Software basierenden Systeme bilden sogenannte Systeme aus Systemen (engl.: Systems of Systems). Hierbei schließen sich Systeme zusammen, um ein gemeinsames übergeordnetes Ziel zu erreichen. Auf der Suche nach neuen und zukünftigen Herausforderungen für die Forschung im Bereich Systems-of-Systems betrachten wir im Projekt DynaSoS verschiedene Anwendungsbereiche, darunter auch die Landwirtschaft.

Digitalisierung in der Landwirtschaft


In der modernen Landwirtschaft, also der digitalen und intelligenten Landwirtschaft, geht es vor allem im Ackerbau um hohe Präzision. Sie führt zu gesteigerter Produktivität, höherer Rentabilität, verbesserter Nachhaltigkeit und Verbraucherschutz. Dank digitaler Konnektivität können intelligente landwirtschaftliche Geräte Daten miteinander austauschen bzw. in Beziehung setzen. Dazu sammeln u. a. mit Sensoren ausgestattete Drohnen und Satelliten Daten aus der Ferne, um beispielsweise den Bodenzustand und die Pflanzenversorgung zu bewerten sowie Schädlinge und Krankheiten zu entdecken. Somit können präzise feldspezifische Informationen an die Farmmanagementinformationssysteme (FMIS) weitergegeben und durch Landwirtinnen und Landwirte für ihre zahlreichen täglichen Entscheidungen genutzt werden.
Abbildung 1 skizziert die wesentlichen landwirtschaftlichen Prozessschritte in einem Anbaujahr und stellt dar, dass sich die einzelnen Prozessschritte gegenseitig beeinflussen. Durch die verschiedenen Symbole (Cloud, Rechner, Datenübertragung) wird angedeutet, dass immer mehr Daten in Teilprozessschritten digital erfasst und analysiert werden. Landwirtschaftliche Produktion findet also in einer komplexen Umwelt mit vielen Einflussfaktoren und gegenseitigen Abhängigkeiten statt. Zum Beispiel haben Fruchtfolge und Sortenauswahl einen Einfluss auf die Gesundheit der Folgekultur auf einem Feld. Die Düngung optimiert zum einen den Pflanzenertrag und die Pflanzenqualität, zum anderen kann Überdüngung zu erhöhtem Nitratgehalt im Grundwasser führen. Es ist daher wichtig, solche komplexen Zusammenhänge zu verstehen, um fundierte Entscheidungen treffen und negative Folgen reduzieren zu können (Vester, 2015). Das Verständnis für vernetzte Systeme (komplexe Systeme) wird dabei in Zukunft insbesondere durch digitale Hilfsmittel unterstützt.

Abbildung 1: Überblick über landwirtschaftliche Prozessschritte (eigene Darstellung).

Pflanzenschutz

Pflanzenschutz ist ein wichtiger Baustein in der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung. Hier besteht in der Agrardomäne die Vision, dass zukünftig jede einzelne Pflanze auf einem Feld gezielt behandelt wird. Dies bedeutet, dass unterschiedliche Technologien fortwährend und selbstständig den Gesundheitszustand einzelner Pflanzen erfassen und analysieren, Prognose- und Wachstumsmodelle berücksichtigen und darauf aufbauend Entscheidungen treffen können. Die Maßnahmen im Feld werden dann mithilfe von autonomen Fahrzeugen und Geräten durchgeführt. In dieser Vision werden zudem lokale Wettereinflüsse und andere Umweltbedingungen berücksichtigt, sodass sich Entscheidungen dynamisch an die sich ständig ändernden Bedingungen anpassen. In welcher Tiefe die Vision in Zukunft umgesetzt wird, ist aktuell nicht abzusehen. Allerdings ist ein Trend in Richtung immer kleinerer Teilflächen auf Feldern zu verzeichnen, um Pflanzen auf Teilflächen bedarfsgerechter und präziser zu behandeln. 

Des Weiteren wird das Konzept eines digitalen Feldzwillings erforscht. Es ist ein neues Konzept im Agrarbereich, dessen Entwicklung auch durch das Fraunhofer IESE vorangetrieben wird. Ein Digitaler Zwilling ist ein virtuelles Abbild eines physischen Objekts. Er bildet den aktuellen Zustand eines Systems ab und kann dadurch das Verhalten des Systems vorhersagen und das Bewerten von Entscheidungen zur Laufzeit ermöglichen. Somit kann z. B. ein digitaler Zwilling von einem kompletten Feld bis hinunter zu einer einzelnen Pflanze geschaffen werden, um dadurch die Nährstoffversorgung oder den Gesundheitszustand von einer Teilfläche bis hin zur Einzelpflanze beobachten und steuern zu können. Insbesondere für Kulturen mit hoher Wertschöpfung, wie z. B. im Weinbau, sind hier positive Effekte zu erwarten. 

Dynamische Kopplungen zu anderen Systemen 

Um nachhaltig hohe Erträge erzielen zu können, ist integrierter Pflanzenschutz, also das Zusammenspiel unterschiedlicher Pflanzenschutzmaßnahmen (mechanisch, chemisch, biologisch), ein zentraler Bestandteil der Arbeit in landwirtschaftlichen Betrieben. In Abbildung 2 ist anhand eines Beispielsystems die Datenflusssicht von der Erfassung des aktuellen Pflanzenzustands über die Entscheidungsbildung und Planung bis hin zur Vorbereitung und Durchführung einer Pflanzenschutzanwendung (Applikation) dargestellt. Es wird deutlich, dass für die Ausführung der Applikation neben den eingesetzten Technologien auch die gute fachliche Praxis, einschlägige Gesetze und Richtlinien sowie dynamische Anpassungen an Wetterbedingungen beachtet werden müssen. Um diese Anwendung zu ermöglichen, muss sich entsprechend ein dynamisches System-of-Systems bilden.

Abbildung 2: Übersicht der Datenflusssicht einer beispielhaften Pflanzenschutzanwendung (eigene Darstellung).

Aus Abbildung 2 wird deutlich, dass in dynamischen Systems-of-Systems neben technischen Aspekten weitere Systeme und Komponenten eine wichtige Rolle spielen. Eine Pflanzenschutzanwendung ist also in einem Netz von unterschiedlichen Systemen eingebettet. Dabei spielen Schnittstellen und dynamische Kopplungen wichtige Rollen. Viele Aspekte aus dem Anwendungsfall hinsichtlich des dynamischen Pflanzenschutzes können auch auf andere Anwendungsfälle übertragen werden, z. B. Düngung.

Mehrwerte durch dynamische Systems-of-Systems 

Pflanzenschutz ist aktuell ein sehr dynamischer Bereich und viele Neuentwicklungen streben auf den Markt. Zu nennen sind hier u.a. autonome Systeme, insbesondere Hackroboter, Drohnen mit Multi-Hyperspektralkameras und die Integration von Sensoren, um die Applikation gezielter durchführen zu können (z. B. Windsensoren zur Verminderung der Abdrift von Pflanzenschutzmitteln). Eine Pflanzenschutzanwendung ist zudem in viele unterschiedliche Systeme eingebettet und muss die Informationen daraus ebenfalls berücksichtigen können. Zu nennen sind hier insbesondere rechtliche Systeme mit ihren Vorschriften zur Ausbringung, z. B. zugelassene Wirkstoffe sowie Abstandsauflagen zu Gewässern. Ebenso wichtig sind natürliche Systeme und die Integration in die landwirtschaftlichen Prozesse (z. B. Berücksichtigung von Fruchtfolgen, Schadschwellen, technische Ausstattung), ökonomische Systeme (z. B. wirtschaftlicher Einsatz der Betriebsmittel) sowie nachhaltigkeitsorientierte Geschäftsmodelle. Abbildung 3 zeigt exemplarisch unterschiedliche Komponenten, die bei einer Pflanzenschutzanwendung zu berücksichtigen sind. Neben den grundlegenden Bestandteilen sind hier ebenfalls zukünftige digitale Komponenten mit aufgeführt, darunter Trägerplattformen (z. B. autonome Maschinen, Robotik), die digitale Infrastruktur oder digitale Entscheidungstools.

Abbildung 3: Zu berücksichtigende (zukünftige) Komponenten bei der Ausführung von Pflanzenschutzmaßnahmen (eigene Darstellung).

Die zuvor beschriebenen Aspekte eines dynamischen landwirtschaftlichen System-of-Systems verfolgen das Ziel, insbesondere die ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit zu erhöhen. Durch die Zusammenführung und wechselseitige Abstimmung der unterschiedlichen Systeme sind diverse Mehrwerte zu erwarten, wie z. B. die gezieltere Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln und damit die Reduzierung von Abdrift, oder die frühzeitige Befallserkennung durch Kameratechnologie, die den Krankheitsbefall bereits erkennt, bevor er mit dem menschlichen Auge wahrgenommen werden kann. Durch die übergeordnete Integration und die vertikale Interoperabilität, z. B. durch den Datenaustausch zwischen FMIS, können Prognosen verbessert werden und ein effizienter Einsatz von Betriebsmitteln wird ermöglicht.

Technologien, Systeme und ihre Interoperabilität

In dem aufgezeigten Beispiel eines zukünftigen Pflanzenschutzes wurde deutlich, dass die Digitalisierung die Prozessabläufe stark beeinflussen und insbesondere durch gesteigerte Präzision verbessern wird. Dies kann zum einen in Form von kleinen schrittweisen Veränderungen erfolgen, zum anderen jedoch auch durch gänzlich neue Herangehensweisen und Verfahren, wie z. B. die selbstständige Ausführung von Pflanzenschutzanwendungen durch vollständig autonome Maschinen. Die Entwicklungsrichtung hängt von vielen Faktoren ab, aber es sind insbesondere vier Hauptfelder der Digitalisierung, die laut Aulbur et al. (2019) die Landwirtschaft verändern werden:

  • Bildverarbeitung und Sensorik 
  • Robotik 
  • Automatisierung 
  • Big Data 

Eine weitere Spezifizierung der Hauptfelder kann hier durch die aufstrebenden Technologien Künstliche Intelligenz (KI) und autonome Systeme erfolgen (weitere Infos zu dem Thema finden sie unter diesem Link).

Es wurde schon bei dem Anwendungsbeispiel Pflanzenschutz deutlich, dass hierin zahlreiche technische Systeme miteinander vernetzt sind. In diesem Zusammenhang ist eine ausreichende Interoperabilität zwischen den Systemen entscheidend. Zunächst ist die Interoperabilität in unterschiedliche Stufen zu unterteilen (Henningsen et al., 2022):

  • Pragmatische Interoperabilität (höchste Stufe)  
  • Semantische Interoperabilität 
  • Syntaktische Interoperabilität
  • Strukturelle Interoperabilität (unterste Stufe)

Viele Initiativen (AgGateway, DKE-agrirouter, AEF) und Projekte (ATLAS, COGNAC) adressieren die Probleme der mangelnden Interoperabilität, aber in der Agrardomäne hat sich noch kein übergreifender (technischer) Standard gebildet. Dafür gibt es diverse Gründe, wie z. B. die Heterogenität des Marktes, die vielfältige Maschinenausstattung in den landwirtschaftlichen Betrieben (unterschiedliche Baujahre und unterschiedliche Hersteller) und die heterogene Systemlandschaft (z. B. Ackerschlagkartei, Warenmanagement, Buchhaltung). Somit findet sich eine funktionierende Interoperabilität oftmals erst auf den untersten Stufen, also der strukturellen und der syntaktischen Interoperabilität. Des Weiteren muss unterschieden werden zwischen der Interoperabilität auf horizontaler Ebene (z. B. Datenaustausch in der Prozesskette zwischen Maschinen) und vertikaler Ebene (Datenaustausch zwischen Maschinen und höherwertigen Diensten). 

Außerdem sind in der Landwirtschaft bislang nur einige Teilprozesse standardisiert, da die Standardisierung aufwändig und komplex ist. Man denke z. B. an die dynamische Anpassung von Prozessen aufgrund unterschiedlicher Wetterbedingungen und den daraus resultierenden unterschiedlichen Pflanzenwachstumsverläufen. Ebenfalls steht die Landwirtschaft vor der Herausforderung, multikriterielle Probleme optimal zu lösen (z. B. Ertrag, Nachhaltigkeit, Qualität). Hier bieten Systems-of-Systems das Potenzial, Optimierungsmaßnahmen umzusetzen, weil für die Lösungsfindung mehr Daten zur Verfügung stehen und wechselseitige Einflüsse simuliert werden können.

Herausforderungen und Forschungsfragen 

Die Landwirtschaft steht aktuell vielen Herausforderungen gegenüber. Dies beschränkt sich nicht nur auf den Ackerbau, sondern auch auf die Tierhaltung (z. B. Umsetzung von Tierwohlstandards). Da die Landwirtschaft sich in einem komplexen System mit vielen unterschiedlichen Systemen befindet, müssen überwiegend multikriterielle Probleme gelöst werden. Die Basis dafür bildet eine ausreichende (technische) Interoperabilität zwischen unterschiedlichen Systemen und Daten. Ebenfalls ist eine entsprechende Datenqualität essenziell. Vor allem in den aufstrebenden Technologien treten Herausforderungen auf, die es noch zu lösen gilt – beispielsweise die semantische Umgebungswahrnehmung bzw. Hinderniserkennung im Bereich autonome Systeme. Fragen der Datenspeicherung und der Datenverarbeitung sind ebenfalls noch unbeantwortet, und auch das Zusammenspiel zwischen zentralen und dezentralen Plattformen ist noch offen. Im Bereich dynamischer Systems-of-Systems ist deutlich geworden, dass es nicht nur technische Herausforderungen gibt; auch politische, ökonomische, agronomische bzw. ökologische sowie gesellschaftliche Herausforderungen müssen berücksichtigt werden. In verschiedenen Interviews mit Expert*innen, die im Rahmen unseres Projekts DynaSoS geführt wurden, wurde deutlich, dass eine ganzheitliche Betrachtung der Domäne Landwirtschaft in der Digitalisierung und somit im Entwurf dynamischer Systems-of-Systems sehr wichtig ist. 

Quellen: 

Aulbur, W., Henske, R., Uffelmann, W., & Schelfi, G. (2019). Farming 4.0: How precision agriculture might save the world. Roland Berger Focus. Munich: Roland Berger. [Online] Verfügbar: https://www.rolandberger.com/publications/publication_pdf/roland_berger_precision_farming.pdf, abgerufen am 22.06.2022.

Henningsen, J., Herlitzius, T., Jeswein, T., Martini, D., Neuschwander, P., Rauch, B. et al. (2022). Machbarkeitsstudie für Betriebliches Datenmanagement und Farm Management Information System in der Landwirtschaft. Schriftenreihe des LfULG, Heft 4/2022. Dresden: Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie.

Vester, Frederic (2015): Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität; ein Bericht an den Club of Rome. Aktualisierte und erweiterte Taschenbuchausgabe, 10. Auflage. München: Dtv (Dtv, 33077).

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