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Nachhaltigkeit in urbanen Räumen durch dynamische Systeme der Systeme

Autor*innen: Julien Siebert, Sarah Brandt.
Kategorie:
Smart Cities.

Einleitung

Die aktuellen Trends hinsichtlich des demografischen Wandels, der zunehmenden Verstädterung, des Klimawandels und der sich ändernden Arbeitsgewohnheiten in Verbindung mit einschränkenden Gegebenheiten in Städten, wie z. B. verschiedene miteinander konkurrierende Flächennutzungen oder begrenzte Ressourcen (Wasser, Energie, Geld, Kompetenzen), führen dazu, dass Städte zunehmend einen Informationsaustausch zwischen einer wachsenden Zahl unterschiedlicher Systeme und Dienste benötigen, um die anstehenden Probleme zu bewältigen. 

Betrachten wir die folgenden Beispiele: 

  • Zur Bewertung und Planung von Strategien zur Wassereinsparung muss der Zustand der (öffentlichen und privaten) Wasserversorgung einer Stadt bekannt sein. Dies erfordert Informationen über die öffentliche Wasserinfrastruktur, Grundwasser, Flüsse und Seen sowie private Wasserreservoirs (z. B. Zisternen). 
  • Zur Bewertung und Planung von Strategien zur Nutzung erneuerbarer Energien, wie z. B. Installation von Photovoltaikanlagen auf Gebäudedächern, ist es erforderlich, das Energieerzeugungspotenzial jedes Gebäudes zu kennen. Dazu muss die Lage der Gebäude, die Sonneneinstrahlung auf jedes Gebäude über das Jahr hinweg, der Grad der Dachneigung und das Vorhandensein bereits installierter Module bekannt sein. 
  • Strategien zum Schutz der Artenvielfalt und zur Klimaanpassung erfordern u.a. Kenntnis des Zustands der Pflanzen und Bäume in der Stadt. Mehrere Arten von Informationen sind hierbei nützlich. Unter anderem könnte es von Interesse sein zu wissen, welche Bäume oder Pflanzen unter Trockenheit leiden. Klimainformationen, der Standort der Pflanzen (z. B. ob sie aufgrund der Präsenz von Gebäuden intensiver Hitze ausgesetzt sind) sowie die Farbe der Blätter sind allesamt nützliche Datenpunkte, die von verschiedenen Systemen bereitgestellt werden.

Smart Cities sind aufgrund der großen Anzahl von Akteuren und Bereichen innerhalb der Stadt sehr komplex. Mit der zunehmenden Digitalisierung in den Städten steigt auch die Menge an Daten. Darüber hinaus setzen sich innovative Technologien und neue Möglichkeiten der Datenerfassung mittels Sensoren und Drohnen immer mehr durch, wodurch mehr Zusammenarbeit und Kommunikation in der Stadt notwendig wird. Neue Tools für die Analyse und Simulation von städtischen Prozessen machen die Arbeit durch datengetriebene Entscheidungen effizienter. Derzeit sind Städte dabei, die verschiedenen Informationsquellen zu ermitteln, die für ihre Prozesse relevant sind, und versuchen, diese zusammenzuführen.

Die Notwendigkeit des Informationsaustauschs ist seit langem bekannt. Bereits bestehende Smart-City-Strategien haben den Weg für neu entstehende Datenplattformen geebnet, die den Akteuren, die sie benötigen, relevante Informationen zur Verfügung stellen, wie beispielsweise das Projekt »Connected Urban Data Architecture« (CUDA) in Freiburg. In Smart Cities sind Datenplattformen von zentraler Bedeutung, da sie Daten aus verschiedenen Quellen innerhalb der Stadt miteinander vernetzen. Dennoch gibt es in Städten immer noch Datensilos, welche die Integration von Daten und Diensten behindern, die zur Erfüllung interdisziplinärer Aufgaben notwendig sind. Ein weiterer erwarteter Nutzen solcher Plattformen ist, dass sie die Schaffung neuer Dienste ermöglichen, die ohne eine solche Plattform nicht realisiert werden können. So informiert etwa die Plattform »Gieß den Kiez« ihre Nutzer*innen über den Wasserbedarf der Bäume in ihrer Nachbarschaft. Nutzer*innen können Patenschaften für Bäume übernehmen und diese abhaken, wenn sie sie gegossen haben. Die Plattform »Mundraub« ermöglicht es Nutzer*innen, Bäume nach Arten zu markieren und zu entdecken, wo in der Stadt Obst und Pflanzen geerntet werden können. Das Potenzial von Pflanzen und Bäumen in Städten kann noch weiter erhöht werden, indem noch mehr Daten integriert werden. Beispielsweise können Baumdatenbanken mit Satelliten- oder Luftbilddaten kombiniert werden, um die Bäume auf einer Karte zu visualisieren, das Grünpotenzial der Stadt zu bewerten oder Dienste wie Mundraub zu bereichern. Diese Dienste könnten wiederum Stadtplanern und beteiligten Akteuren bei der Zusammenarbeit helfen und die Kommunikation, den Gemeinschaftssinn und die Beteiligung der Bürger*innen am städtischen Leben und an kommunalen Entscheidungen über ihre Umwelt fördern.

Ein weiterer anerkannter Trend ist der Bedarf an und die zunehmende Nutzung von digitalen Zwillingen. Digitale Zwillinge können als eine digitale Darstellung physischer Assets definiert werden, die über die Informationsebene hinausgehen (d.h. die Übertragung von Sensordaten), indem sie eine funktionale Ebene hinzufügen, die es ermöglicht, Aktionen in der physischen Welt von ihrem virtuellen Spiegelbild aus auszulösen. Um ein ganz einfaches Beispiel zu nennen: Ein »smarter« Rasensprenger kann physisch seinen Zustand anzeigen (an oder aus) und die im Laufe der Zeit verbrauchte Wassermenge messen (über ein Messsystem), aber er kann auch eine Softwareschnittstelle bereitstellen, die ihn aus der Ferne an- oder ausschalten und überwachen kann. Smart Cities arbeiten derzeit an digitalen Stadtzwillingen (z. B. das Projekt »5GAPS« in Hannover), indem sie ihre Eigenheiten und Bedarfe verstehen, Anwendungsfälle für ihre Umsetzung identifizieren und ihr Potenzial bestimmen. Die Idee ist, Daten und Systeme zu vernetzen, um die Herausforderungen zu bewältigen, denen sich Städte gegenübersehen. Obwohl die Vorteile für Städte auf der Hand liegen, gibt es noch viele Herausforderungen – innerhalb der Städte, aber auch mit der Technologie selbst –, die überwunden werden müssen, bevor Systeme integriert werden können, zum Beispiel als digitaler Zwilling einer Stadt.

Auf dem Weg zu städtischen Systemen der Systeme

Die zunehmende Verfügbarkeit von Datenplattformen und digitalen Zwillingen ermöglicht die Einrichtung von Systemen der Systeme. Ein System der Systeme ist eine Konstellation verschiedener Systeme, die zusammenarbeiten (z. B. durch ihre digitalen Zwillinge), um ein Ziel zu erreichen, das keines von ihnen allein erreichen könnte (Gorod et al. 2008).

Diese Möglichkeit wirft zwei Fragen auf. Erstens: Warum sollte man solche Systeme der Systeme einführen und nutzen – mit anderen Worten, was können wir mit ihnen tun und welchen Nutzen haben sie für uns? Zweitens: Wenn diese Art von Systemen notwendig und nützlich ist, welche Forschungsarbeiten im Bereich Software Engineering müssen dann noch durchgeführt werden, damit solche Systeme ihre Ziele erreichen und gleichzeitig die derzeitigen Einschränkungen in Bezug auf Datennutzung, Automatisierung von Entscheidungen und Auswirkungen auf Umwelt und Energieverbrauch berücksichtigen können?

Es ist eine schwierige Aufgabe, sich vorzustellen und vorherzusagen, was ein System der Systeme tun könnte, ohne dass all seine Komponenten bereits verfügbar sind. Im Bereich der Smart Cities gibt es derzeit nur wenige Beispiele, die das Potenzial solcher Systeme demonstrieren. Extrapoliert man jedoch von ähnlichen Arten von Systemen wie Digitalen Ökosystemen (Koch, Krohmer et al. 2022), lässt sich der Bereich des Möglichen ausloten, ohne zu futuristisch oder naiv daherzukommen.

Indem anderen Systemen mitgeteilt wird, welche Funktionalität ein System bietet, welche Ressourcen es benötigt und wann und wo dieses System verfügbar sein könnte (d.h. welche Fähigkeiten es hat), können Systeme (dynamisch) neu angeordnet oder in mehreren Kontexten wiederverwendet werden, und (physische) Systeme, die die meiste Zeit inaktiv sind, können eine zweite Verwendung finden. Ein Marktplatz oder der Parkplatz eines Supermarkts ist beispielsweise ein Platz, dessen Nutzungsintensität sich ständig ändert. Der Parkplatz kann sonntags leer sein, und ein Marktplatz wird vielleicht nur einmal pro Woche tatsächlich für einen Markt mit Ständen genutzt. In ähnlicher Weise kann die Datenerfassung von Systemen erweitert werden, um zusätzliche Zwecke zu unterstützen. Drohnen, die Bilder zur Überwachung des Verkehrs machen, könnten parallel dazu nützliche Daten über den Zustand von Bäumen, die Nutzung von Dächern oder die Art von Oberflächen liefern.

Abbildung 1: Abstrakter Überblick über unser Beispielsystem für die blaue und grüne Infrastruktur einer Smart City.

Abbildung 1 zeigt eine Übersicht über ein mögliches System der Systeme in einer Smart City, das verschiedene miteinander vernetzte Komponenten zur Anpassung der Stadt an den Klimawandel nutzt. Die Einführung von Systemen der Systeme in städtischen Kontexten bringt einige ganz besondere Herausforderungen mit sich. Große Städte haben in der Regel komplexe Strukturen und viele Stakeholder, die einerseits bei der Gestaltung berücksichtigt werden müssen und andererseits selbst Akteure sind, die das Stadtklima beeinflussen. Außerdem ist die Flächennutzung der einzelnen Gebiete vorgegeben und nur schwer zu ändern, besonders wenn das Ziel darin besteht, mehr Grünflächen zu schaffen.

Eine vielversprechende Lösung wäre die Möglichkeit, Baumkübel oder lebende Wände innerhalb der bestehenden Infrastruktur der Stadt zu bewegen; entweder autonom oder mithilfe autonomer Fahrzeuge, die sie durch die Stadt steuern. Jeder bewegliche Baum bzw. jede bewegliche Pflanze kann als ein separates System innerhalb des »Begrünungssystems« betrachtet werden. Diese Systeme benötigen Wasser und Nährstoffe, die zum Beispiel durch Drohnen (einem anderen System) bereitgestellt werden könnten, oder die beweglichen Pflanzen könnten selbstständig zu einer Wasserquelle fahren, an die sie sich anschließen können. Drohnen könnten zusätzlich als Pflanzenpfleger eingesetzt werden (durch Kombination des »Pflegesystems« mit dem »Überwachungssystem«). Das bedeutet, dass der Einsatz verschiedener Drohnen das Wohlergehen der Pflanzen mit einem individuellen Aufgabenpaket unterstützen würde, oder dass einzelne Drohnen mit mehreren Fähigkeiten ausgestattet wären, um sich an die Bedürfnisse der Pflanzen anzupassen, indem sie Wasser und Nährstoffe bereitstellen, die Pflanzen schneiden usw. Mithilfe von Sensordaten und einem mit dem System der Systeme verbundenen Bildanalysesystem könnten solche Drohnen direkt analysieren, ob und wo Pflanzen geschnitten werden müssen. Dieser Ansatz würde den Einsatz von Ressourcen für die Pflege (als »Managementsystem«) minimieren, weil die Drohnen nur dann tätig werden müssten, wenn eine Pflanze einen bestimmten Pflegebedarf hat (wie vom »Überwachungssystem« ermittelt).

Um eine effiziente und sichere Route für die für die beweglichen Pflanzen eingesetzten autonomen Fahrzeuge zu gewährleisten, würde die Anbindung eines Verkehrsleitsystems es den beweglichen Bäumen ermöglichen, ihre Routen selbstständig zu organisieren. Mit dem System der Systeme vernetzte geografische Informationssysteme (GIS) würden die Klimamodellierung unterstützen, um Gebiete zu identifizieren, die von einer Änderung der Flächennutzung profitieren könnten. Sie würden Echtzeitinformationen wie Straßenkarten für die beweglichen Pflanzen, Flächennutzungskarten zur Ermittlung freier Flächen, zu denen sich die Pflanzen begeben könnten, oder Informationen über die Wasserinfrastruktur liefern. Wird ein Klimasystem hinzugefügt, könnten die Pflanzen an Orte gebracht werden, wo sie das Stadtklima tagsüber positiv beeinflussen würden. Sie könnten zum Beispiel strategisch so platziert werden, dass sie an Orten, die zur Bildung von Hitzeinseln neigen, Schatten spenden. GIS-Systeme, die mit verschiedenen Sensoren verknüpft sind, die Informationen liefern, könnten dabei helfen, festzustellen, ob eine positive Auswirkung vorliegt oder nicht. Diese vernetzten Systeme hätten ferner einen direkten und indirekten Einfluss auf andere Systeme, z.B. auf das Gesundheitswesen, indem sie für sauberere Luft und niedrigere Temperaturen sorgen, oder auf das Klimasystem der Stadt insgesamt. 

Abbildung 2: Komponentenansicht unseres exemplarischen Systems der Systeme im Kontext einer Smart City.

Abbildung 2 gibt einen umfassenden Überblick über mögliche Komponenten und Zwecke eines städtischen Systems der Systeme. Die Verknüpfung der verschiedenen oben genannten Systeme macht es möglich, einen guten Überblick über die Stadt und ihren Verkehr, ihr Klima und ihre Flächennutzung zu erhalten. Die Abbildung bietet eine detailliertere Ansicht eines städtischen Systems der Systeme, dem mehrere zusätzliche Komponenten hinzugefügt wurden, die als Input und Output der verschiedenen Systeme dienen, die es enthält. Sie stellt auch Fragen an den relevanten Rändern, deren Berücksichtigung wichtig ist. Wenn eine Stadt beispielsweise beschließt, den Schwerpunkt auf eine grüne Infrastruktur zu legen, wie kann sie diese dann pflegen? Was sind die Vorteile der Begrünung? Wie können Begrünungssysteme und städtische Anbausysteme verwaltet werden? Wie viele Ressourcen verbrauchen die Pflanzen? Welche Auswirkungen hat die grüne Infrastruktur auf andere Systeme? Zur Beantwortung dieser Fragen zeigt diese detaillierte Ansicht, wie solche Systeme in einer Stadt auf natürliche Weise verbunden sind, und dass es für Städte wichtig ist, einen System-der-Systeme-Ansatz zu verfolgen. 

Praktische Beispiele

Betrachten wir an dieser Stelle zwei Anwendungsbeispiele, um den Einsatz von Systemen der Systeme in einem städtischen Kontext anhand konkreter Beispiele zu veranschaulichen, die zeigen, dass es sich hierbei nicht nur um eine abstrakte Vision handelt. In diesem Abschnitt untersuchen wir, was es bedeutet, den System-der-Systeme-Ansatz in die Praxis umzusetzen, welchen Kommunikationsbedarf es gibt und wie mehrere Systeme im Kontext zusammenarbeiten können.  

Anwendungsbeispiel 1: »Temporärer Wald«

Zuerst untersuchen wir ein Beispiel für die sinnvolle Nutzung eines Marktplatzes an Wochenenden. Ähnliche Projekte gibt es bereits, wie »BOSK« in Leeuwarden in den Niederlanden, obwohl sie nicht notwendigerweise automatisierte Systeme verwenden. 

In der Sommersaison wird jedes Wochenende ein Marktpatz in einen kleinen Wald verwandelt, indem Bäume, Moosflächen, Blumenkübel und Stadtmöbel wie z. B. Bänke aufgestellt werden. Dieser »temporäre Wald« wird dann für Erholungszwecke (z.B. Freizeit, Sport) genutzt. Manchmal werden auch Veranstaltungen organisiert (Konzerte, Ausstellungen).

Zu Beginn der Waldsaison werden bewegliche Bäume, Pflanzen und Stadtmöbel in der Nähe des Marktplatzes gelagert, wobei einige von ihnen möglicherweise sogar die umliegenden Straßen und Felder säumen.

Die Umgestaltung beginnt jeweils am Freitagabend. Bäume und Pflanzen werden mit Palettenziehern und Gabelstaplern auf den Platz gebracht. Zu anderen Zeiten wird diese Gruppe von Geräten, die zum Teil der Stadt und zum Teil einem Privatunternehmen gehören, im Allgemeinen für logistische Aufgaben verwendet. 

Die Anordnung der Bäume und Pflanzen auf dem Platz ändert sich jedes Wochenende und wird im Vorfeld simuliert. Ziel ist es, genügend Schatten zu erzeugen oder die Bäume und Pflanzen so dicht nebeneinander zu platzieren, dass die Temperatur vor Ort gesenkt wird, aber immer noch genug Platz für die Menschen bleibt, um sich dazwischen zu bewegen. Diese Informationen werden über die Informationsaustauschplattform der Stadt an die »Transportsysteme« weitergegeben. 

Sonntagabends werden die Bäume und Pflanzen wieder an ihren ursprünglichen Standort oder an einen anderen Ort gebracht, wo sie gebraucht werden.

Um auszuwählen, welche Bäume und Pflanzen für den temporären Wald in der Stadt geeignet sind, werden Informationen über die grünen Systeme benötigt: Größe, Gewicht, Schattenpotenzial, Gesundheitszustand, Standort, ob eine Pflanze für die Saison verfügbar ist oder für einen anderen Zweck mit höherer Priorität vorgesehen ist. Es gelten bestimmte Einschränkungen wie die Transportlogistik (d.h. kann der Baum transportiert werden, gibt es Transportbeschränkungen wie Tunnel oder Stromleitungen), und diese sollten automatisch verwaltet werden. Dazu sind auch Informationen wie Transportkarten und einschlägige Vorschriften erforderlich. Zu den wichtigen Informationen für die korrekte Planung der Umgestaltung an jedem Wochenende gehören die Form des Marktplatzes sowie die Art der Veranstaltungen, die während der Sommersaison stattfinden.

Während der Zeit, in der der temporäre Wald steht, werden auch andere Dinge überwacht, z.B. die lokale Luftqualität, die Temperatur, die Anzahl der Menschen auf dem Platz und generell die Auswirkungen auf die Geschäfte vor Ort und das Stadtleben. Anhand dieser Informationen werden dann die Auswirkungen des temporären Waldes auf die lokale Umgebung und die Stadt als Ganzes bewertet.

Anwendungsbeispiel 2: »Regenereignisse in trockenen Sommern«

Unser zweiter Anwendungsfall betrifft die Regenwassergewinnung auf systemweiter Ebene in Zeiten der Trockenheit. Hier gehen wir davon aus, dass geeignete Klimaanpassungs- und Wassermanagementstrategien bereits eingeführt wurden und dass viele der beteiligten Systeme über eine gemeinsame digitale Plattform kommunizieren und zusammenarbeiten können. Dieser Anwendungsfall soll keine Lösung für das komplexe Problem der Optimierung von Wasserressourcen bieten, sondern vielmehr das Potenzial solcher Systeme der Systeme aufzeigen und die zugrunde liegenden Herausforderungen für das Software Engineering verdeutlichen.

Die Wettervorhersage kündigt für ca. 16:15 Uhr erhebliche Niederschläge über der Stadt an. In den vergangenen Wochen waren die Sommertemperaturen hoch, und die Bodensensoren zeigen sehr trockene Böden an. Außerdem hat das Wasserwerk angekündigt, dass sowohl die öffentlichen als auch die privaten Wasserreserven zur Neige gehen. Die Möglichkeit, Trinkwasser aus dem Boden zu pumpen, ist aufgrund der anhaltenden Trockenheit begrenzt. In dieser Situation ist es von entscheidender Bedeutung, so viel Regenwasser wie möglich aufzufangen, um die Wasserreservoirs zu füllen, aber auch, um Oberflächenabfluss zu vermeiden.

Auf der Grundlage der prognostizierten Niederschlagsmenge und der Informationen aus dem GIS-System der Stadt berechnet der digitale Optimierungsdienst für die Regenwassergewinnung das Potenzial für die Regenwassergewinnung pro Fläche. Das Regenwassergewinnungspotenzial jedes Gebäudes (z.B. seine Dachfläche), das verfügbare Speicherpotenzial sowie die Menge des in die Kanalisation abfließenden Regenwassers werden mit Informationen aus dem digitalen Kataster und privaten intelligenten Wasserspeichern aktualisiert.

Diese Informationen werden zusammen mit historischen Daten früherer starker Regenfälle als Input für eine stadtweite Starkregensimulation verwendet, um festzustellen, für welche Straßen und Orte eine Beeinträchtigung durch übermäßiges Niederschlagswasser am wahrscheinlichsten ist. 

Die modellbasierten Vorhersagen werden an das Mobilitätssystem der Stadt weitergeleitet, um zu entscheiden, ob Straßen oder Plätze vorübergehend gesperrt werden sollten, um Unfälle zu vermeiden. Die Informationen werden auch automatisch an die entsprechenden Systeme weitergegeben, wie z.B. an die Notfallsysteme der Stadt (der Feuerwehr, der Polizei etc.). Außerdem werden die Informationen von der Abteilung für Kanalinfrastruktur dazu verwendet, die effizienteste Art und Weise für die Kontrolle des bevorstehenden Wasserflusses und den Umgang damit zu bestimmen und das Wasser bei Bedarf in bestimmte Reservoirs zu leiten.

Abbildung 3: Beispiel eines trichterförmigen Regenwassersammlers (Bildquelle: Thomas Valcke / CC BY-NC-SA; Valcke, 2022).

Zusätzlich zu diesen festen Systemen und Infrastrukturen können auch Systeme eingesetzt werden, die Regenwasser an ausgewählten Stellen in der Stadt, wie Marktplätzen oder Parkplätzen, auffangen und filtern. Es gibt zum Beispiel Regenwasserauffangsysteme, die wie umgedrehte Regenschirme aussehen (siehe Abbildung 3). Sie spenden normalerweise Schatten auf Plätzen, in Parks oder auf Restaurantterrassen. Wenn es regnet, können sie umgeklappt werden, um das Wasser aufzufangen, wobei einige Modelle sogar über einen eingebauten intelligenten Tank verfügen. Auch längerfristige Maßnahmen sind denkbar, wie die Planung und Schaffung von temporären Wassergärten (z. B. auf leeren Parkplätzen), in die überschüssiges Wasser umgeleitet wird. Spezielle Baumpflanzgefäße mit Wasseranschlussleitungen sowie intelligente Wassertanks können auch miteinander verbunden werden, um einen Kreislauf aus Wasser und Pflanzen zu schaffen, der einen Teil des Wassers direkt aufnimmt und den Rest filtert.

Herausforderungen für dynamische Systeme der Systeme

Die oben aufgeführten Beispiele zeigen, wie die Interaktion zwischen verschiedenen, relativ unabhängigen Systemen die Lösung komplexer städtischer Probleme ermöglicht. Entwurf, Aufbau und Wartung solcher software-intensiven Systeme der Systeme sind jedoch nicht ohne Herausforderungen. Im Kontext des Projekts DynaSoS haben wir mehrere Smart-City-Expert*innen aus Städten, Forschung und Industrie befragt. Im Folgenden geben wir einen komprimierten Überblick über die von diesen Expert*innen häufig genannten Herausforderungen im Bereich Software Engineering.

Kommunikation und Interoperabilität

Intelligente Systeme gibt es schon, und Daten werden in Städten bereits gesammelt und gespeichert. Das Aufbrechen bestehender Silos stellt jedoch oft eine Herausforderung dar. Zu wissen, wo sich die Informationen befinden, welches Format sie haben und welche Qualität, ist immer noch sehr schwierig. Da Daten für einen bestimmten Zweck erhoben werden und dann zur Wiederverwendung für einen anderen Zweck verfügbar gemacht werden, stellen sich ferner Fragen in Bezug auf die Datenverarbeitung und die Datenqualität. Dementsprechend müssen Plattformen für den Datenaustausch das Abrufen von Informationen ermöglichen, die zugehörigen Metadaten verwalten und die Interaktion mit verschiedenen Systemen über standardisierte Schnittstellen ermöglichen.

Ermöglichung von Kommunikation, Transparenz und neuen Diensten

Die Entwicklung städtischer Datenplattformen geht Hand in Hand mit neuen angrenzenden Funktionalitäten, wie Einführung neuer Dienste unter Nutzung vorhandener Daten oder Zugang zu neuen Arten von Informationen. Einerseits wird dies durch technische Herausforderungen behindert, etwa durch die Notwendigkeit, gemeinsame Vokabularien und Semantiken zu erschaffen. Andererseits ermöglicht dies Zugang zu Daten über langfristige Maßnahmen einer Kommune, die analysiert und genutzt werden können, um die Beteiligung der Bürger*innen zu stärken und die Kommunikation mit ihnen zu fördern. Auf diese Weise hilft die verbesserte Transparenz den Bürgerinnen, die kommunalen Entscheidungen und Prozesse besser zu verstehen.

Qualitätsaspekte

Die automatisierte Interaktion und Zusammenarbeit verschiedener Systeme, die Simulationen und Daten gemeinsam nutzen können, trägt dazu bei, evidenzbasierte Entscheidungsprozesse zu unterstützen. Dies führt zu wichtigen Fragen wie: Was bedeutet Qualität in solch einem komplexen System? Bezieht sie sich auf die Qualität der einzelnen Systeme oder auf die Qualität des Systems als Ganzem? Und falls ja, wie sollte sie dann gemessen werden? Wer sollte die Metriken definieren? Dies wiederum ruft technische und nicht-technische Fragen auf, von der Software über Vorschriften und Gesetze bis hin zur Datenanalyse und zu den sozialen Auswirkungen. Daher müssen viele Fähigkeiten und Disziplinen zusammengebracht werden, wobei die Kommunikation zwischen den Stakeholdern von entscheidender Bedeutung ist.

Die Rolle von Daten und lernenden Systemen

Eine gute Datenbasis ebnet den Weg für gute Analysen. Datenmanagement, Qualitätssicherung und Governance werden zu einem integralen Bestandteil der Aufgaben eines Systems der Systeme. Darüber hinaus wirft der zunehmende Einsatz datengetriebener Softwarekomponenten, die auf Techniken wie Data Mining oder Maschinellem Lernen beruhen, zahlreiche neue Fragen im Bereich Software Engineering auf, unter anderem zu Themen wie Modelltesten, Erklärbarkeit von Komponenten mit Künstlicher Intelligenz, Konfigurationsmanagement etc. (Martínez-Fernández 2022).

Virtualisierung und Simulation

Stadtplanung – ob in Bezug auf langfristige Klimaanpassungsmaßnahmen wie neue blaue/grüne Infrastrukturen oder kurzfristige, lokale, anpassungsfähige und kurzlebige Maßnahmen wie die Bereitstellung von städtischem Mobiliar für bestimmte Veranstaltungen – erfordert die Fähigkeit, Vorhersagen bezüglich diverser Aspekte treffen zu können, wie Mobilität, Bebauung, unterirdische Infrastruktur (Wasser, Strom, Gas), örtliches Klima etc. Für jeden dieser Aspekte müssen Modelle erstellt werden – entweder von Expert*innen oder auf Grundlage historischer Daten. Die vorhandenen Modelle müssen dann gekoppelt und gemeinsam simuliert werden, um eine ausreichend realistische Simulation zu erstellen. Außerdem können von den Analyseergebnissen vorgeschlagene Maßnahmen automatisch ergriffen werden, indem die Konfiguration der Systeme geändert wird oder Funktionalitäten in der physischen Welt ausgelöst werden (z. B. durch digitale Zwillinge). 

Und schließlich müssen die komplexen Wechselwirkungen in diesen Systemen der Systeme bewertet, vorhergesagt und kontrolliert werden. Hier kann der Systems-Engineering-Ansatz zur Beherrschung der Komplexität in Verbindung mit numerischen Werkzeugen wie Datenaustauschplattformen, Simulationen und numerischen Zwillingen dazu beitragen, die inhärente Komplexität dieser Systeme zu konkretisieren und unbeabsichtigte neu auftretende Effekte zu kontrollieren.

Referenzen

Gorod, A., Sauser, B., & Boardman, J. (2008). System-of-systems engineering management: A review of modern history and a path forward. IEEE Systems Journal2(4), 484-499. DOI: 10.1109/JSYST.2008.2007163

Koch, M., Krohmer, D., Naab, M., Rost, D., & Trapp, M. (2022). A matter of definition: Criteria for digital ecosystems. Digital Business, 100027. DOI: 10.1016/j.digbus.2022.100027

Martínez-Fernández, S., Bogner, J., Franch, X., Oriol, M., Siebert, J., Trendowicz, A., Vollmer, A. M., & Wagner, S. (2022). Software engineering for AI-based systems: A Survey. ACM Transactions on Software Engineering and Methodology, 31(2), Article 37e (April 2022), 59 pages. DOI: 10.1145/3487043

Valcke, T. (2022). ATOHMS projects. [Online]. Available at: https://atohms.wordpress.com/projects/raincatcher/  

Titelbild: © Arcansél – stock.adobe.com, BOSK: © Eddy Groen